Die Gartenparty

Onkel Zieper trat aus seinem Haus und alle klatschten. Beschwichtigend wehrte er mit einer Armbewegung ab. In seinem Garten vergnügten sich an die fünfhundert Menschen, Männlein und Weiblein aber auch viele Kinder. Für die Kleinen waren allerhand Spiele vorbereitet. Die Kinder konnten Sackhüpfen, Eierlaufen und sich auf einem luftgefüllten Ungetüm von Trampolin austoben. Auch gab es Gewinne, genauer gesagt Gewinnchips. Die konnten die Kinder dann gegen Bonbons oder Eiskrem eintauschen. Die Erwachsenen brauchten diesen Umweg nicht zu gehen. Wer kräftig auf den Lukas haute, der bekam sofort einen Schnaps, und wessen Muskeln zu schwach waren, der bekam zur Stärkung eine Schmalzstulle oder ein Bratwürstchen. Überall im Garten kitzelte der Geruch von Gebratenem die Nasen der Gäste. Auch konnten sich die durstigen Kehlen an drei Bierständen laben. Als besondere Attraktion wurde ein Ochse am Spieß gebraten, allerdings würde es noch eine Zeitlang dauern, bis der gar war. Zieper mischte sich unters Volk, schüttelte Hände und hielt manchen Plausch. Oft wurde gefragt, was es eigentlich zu feiern gäbe. Aber er lachte dann nur, hob sein Glas und rief:
»Kinder, wir feiern aus Freude am Leben, kommt, laßt uns noch einen heben!«
Natürlich hatte der alte Fuchs nur Wasser in seinem Glas. Er schritt von Gruppe zu Gruppe, tätschelte Kinder und gab den Eltern guten Rat. Längere Zeit unterhielt er sich mit Frau Schütze und sprach ihr Trost zu, scherzte dann sogar mit ihr. Es gelang ihm doch tatsächlich, die gute Frau zu einem herzhaften Lachen zu bringen. Eigentlich wäre diese seelsorgerische Arbeit eine dankbare Aufgabe für die beiden geistlichen Würdenträger gewesen, zu denen er sich jetzt gesellte. Es war der evangelische Bischof Rudolf Freiangst aus Lichtstadt und die evangelische Bischöfin Jutta Wegener aus Nordstadt. Der Herr Bischof hielt ein großes Glas Bier in der einen Hand und in der anderen ein Würstchen. Seine geistliche Kollegin enthielt sich solch irdischer Freuden, sie nippte an einem Glas Wasser. Beide waren in einem anregenden Gespräch vertieft. Onkel Zieper schnappte die Worte "gebetet" und "Petrus" auf. Er wollte sich gerade wieder entfernen, niemals würde er zwei Theologen in ihrem Gespräch stören, als er merkte, daß die beiden sich nur übers Wetter unterhielten.
»Wer von Ihnen hat nun das wundervolle Wetter zu unserem Gartenfest bestellt?« fragte er leutselig.
»Ich habe schon vorigen Sonntag für besseres Wetter gebetet, aus Sorge um die Ernte«, sagte die Bischöfin.
»Und ich habe gestern meinen Teller ratzekahl leer gegessen«, sagte der Bischof und schmunzelte, »und prompt hat das Schütten aufgehört.«
»Gut, Sie haben gewonnen«, Zieper lachte und klopfte dem Bischof mit der flachen Hand gegen den dicken Bauch, »passen Sie bloß auf, daß nicht eine fürchterliche Dürre kommt!«
Die Frau Bischöfin fand das gar nicht so lustig. Sie kam aus dem nördlichen Teil des Landes, dort sind die Leute sehr ernst, und in religiösen Dingen versteht man keinen Spaß. Auch in weltlichen Dingen nicht. Nein, alles muß seine Ordnung und Richtigkeit haben. Onkel Zieper ging weiter, aber noch bevor er zur nächsten Gruppe stieß, kam ihm die Erinnerung an eine Talkshow im Fernsehen in Erinnerung. Da war die Bischöfin zu Gast gewesen.
»Wenn unsere obersten Richter urteilen, ich sei von Stund' an ein Mann«, hatte sie tatsächlich gesagt, »dann beuge ich mich ihrem Spruch und ohne mit der Wimper zu zucken, werde ich das Urteil akzeptieren. Recht muß schließlich Recht bleiben. Gebt dem Kaiser was des Kaisers ist.«
Und als dann die anderen Damen der Runde erschrocken die Hand zum Mund geführt, und eine leise, aber mit kaum unterdrücktem Abscheu gesagt hatte, dann müsse sie ja so ein Ding tragen, da hatte sie geantwortet:
»Jawohl, dann werde ich dieses Kreuz tragen und zwar mit erhobenem Haupt. Noch einmal, Recht muß Recht bleiben! Im Übrigen bin ich sicher, wenn man eine solch große, schwere Bürde auf sich nimmt, wenn ich so geprüft würde, dann wäre ich auch reif für andere, vielleicht höhere Aufgaben.«
Zieper wußte nur zu gut, mit diesen klaren Worten hatte die Bischöfin allen Menschen im nördlichen Teil des Nord-Süd-Landes aus der Seele gesprochen. Aber der Anruf einer alten Parteifreundin aus dieser Gegend hatte ihn nachdenklich gestimmt. Nein, so könne es mit der Jugend nicht weitergehen, hatte sie geklagt. Ihr achtjähriger Enkel, der trotz der späten Stunde die Sendung gesehen hatte, dem war doch tatsächlich ein absonderlicher Vergleich eingefallen.
»Ja, Oma«, hatte das Gör gesagt, »da muß sich die Frau aber vorsehen. Sie ist jetzt schon Bischöfin, wird dann sogar ein Bischof, aber bevor sie Papst wird, sitzt sie wieder in ihrem alten Pott!«
Zieper ging weiter. Er entschied sich für ein kühles Bier und hielt auf einen der Bierstände zu. Seine Vorfreude wurde durch zwei Männer getrübt, die dort dem Gerstensaft zusprachen.
»Verflucht«, murmelte er in seinen Bart, »wer hat denen die Eintrittskarten gegeben?«
Er meinte damit zwei Reporter des Lichtstädter Boten, einer Journaille übelster Art. Zieper tat so, als sähe er die beiden nicht und wollte stracks weitergehen. Aber die beiden Schreiberlinge hatte ihn bereits erspäht. Also machte er gute Miene zum bösem Schrieb.
»Herr Zieper, Sie sprachen vorhin mit Frau Schütze. Wir sahen, wie die Dame lachte. Hat sie Grund dazu?«
»Frau Schütze hatte euch beide für eine kurze Zeit angeschaut, aber als sie ihren Blick wieder von euch abwandte, da hat sie erkannt, wie schön das Leben doch sein kann. Spaß beiseite, nein, ich konnte ihr nichts Neues sagen. Aber ich bin sicher, Schütze wird bald aus dem Krankenhaus entlassen. Wer von euch beiden tut mir einen Gefallen?«
»Ich«, riefen die beiden wie aus einem Mund.
»Wer denn nun? Ihr müßt euch schon einigen!«
Die beiden sahen sich an, der jüngere ließ dem älteren Vortritt.
»Das ist aber nett Herr Liebenau, holen Sie mir doch bitte ein Bier.«
Der wollte aber nun, daß sein Kollege gehen sollte. Wie bei den Hunden, herrscht bei den Journalisten eine gewisse Rangordnung. Tatsächlich verschwand der junge Kollege im Gewühl.
»Gut, daß wir jetzt unter uns sind», sagte Zieper in geheimnisvollen Ton, »ich kann Ihnen eine Nachricht geben, die dürfen Sie aber erst in drei Tagen bringen. Einverstanden?
Der Journalist nickte und stellte seine Lauscher auf Empfang.
»Unser Ministerpräsident tritt zurück«, flüsterte Zieper.
»Wann? Wegen der Schachtel?«
»Nein, wegen der Toilette!«
Zieper freute sich über den dummen Ausdruck im Gesicht des anderen.
»Wieso Toilette?«
»Immer wenn Glander pinkelt, tritt er etwas zurück. Sie etwa nicht?«
Ob er wollte oder nicht, der Reporter mußte mitlachen, es war zwar gequält, aber immer hin.
»Was lacht ihr denn so?« fragte der andere Journalist, als er Zieper das Bier reichte.
»Das ist geheim!« rief der Landesvorsitzende, ging mit dem Glas in der Hand weiter und lief prompt in die Arme eines anderen Pressemenschen. Der hatte es allerdings weit gebracht, der war Verleger. Aber was das Wichtigste war, er war ein Freund des Landesvorsitzenden. Sie gingen ein Stück abseits, so konnten sie ohne Zuhörer ein Wort wechseln.
»Eduard, sag', was ist der Grund für diese Feier?«
»Ich freue mich, und möchte, daß andere an meiner Freude teilhaben. Ich hoffe doch, daß du dich amüsierst.«
»Und wie, nochmals vielen Dank für die Einladung.«
»Aber du machst so ein ernstes Gesicht. Hast du Sorgen?« fragte Zieper.
»Ehrlich gesagt ja. Wenn du wüßtest, wie ich mich über den Nord-Süd-Geist ärgere. Am Liebsten würde ich das Blatt einstellen.«
»Nun übertreib' man nicht. Er ist wohl etwas in die Jahre gekommen, du müßtest ihn 'mal gründlichst abstauben.«
Der Verleger schüttelte den Kopf.
»Nein, das ist nicht das Problem, darunter leidet eine ältere Zeitung zwangsläufig. Öfters ist sogar ein neuer Besen durch die Redaktionsräume gefahren, hatte auch manchen Staub aufgewirbelt. Aber eben nur gewirbelt. Der Dreck hat sich dann immer wieder gesetzt und ist dann in Bereiche gefallen, die vorher keines Abstaubens bedurft hätten, jetzt jedoch wie Sand im Getriebe wirken.«
Dem Verleger gehörte die angesehene Zeitung ‚Nord-Süd-Geist‘. Das war nicht etwa eine Fachzeitschrift für Spirituosen, nein, die Zeitung unterwies das ganze Nord-Süd-Land in Sachen Kultur, war das Bildungsblatt des Landes. Der Nord-Süd-Geist wollte in die Köpfe der Menschen blitzen. Manchmal blitzte er nur selten, merkte nicht wie die Zeit verging. Dann jedoch, um den Zeitgeist nicht zu verschlafen, blitzte er so schnell, daß den Lesern das Blatt aus der Hand fiel. Eine alte Studienrätin wußte plötzlich nicht mehr wie ihr geschah. Zwar waren weiterhin die Wörter sehr gesittet, aber die Buchstaben waren es, die aus der Reihe tanzten. Immer wieder war es das kleine f, das nun groß geschrieben wurde. Dieser Buchstabe kitzelte die Dame an Stellen, von denen sie vorher nicht gewußt hatte, daß die existierten. Nein, an dem kleinem f nahm die Dame keinen Anstoß, auch an dem großen nicht. Ganz im Gegenteil, jetzt hatte sie das Gefühl, in der Vergangenheit beschnitten worden zu sein. Da sie jetzt erwacht war, las sie unvoreingenommen in dem Blatt. Aber dem F folgte nicht mehr das I. Dieser lustige Kumpan des F, früher stets an zweiter Stelle, wollte nicht mehr mit von der Partie sein. Aus ihm hatte der Zeitgeist ein U, klein und häßlich, an ein Toilettenbecken erinnernd, gebogen. Und alles war so traurig, so unendlich melancholisch. Auch dem Unternehmer, dessen Griff früher freudig dem Nord-Süd-Geist gegolten hatte, nicht des Wirtschaftsteils wegen, nein, das wäre Zeitverschwendung gewesen, dem Herrn wurde bei der Lektüre des Blattes angst und bange. Wer läßt sich schon gern verstümmeln? Und alles war so traurig, so unendlich melancholisch. Aber der Handwerker beklagte sich nicht über das Blatt, wieso auch, er las es nicht. Jedoch einer der klugen Schreiber des Nord-Süd-Geists, ein Redakteur des Feuilletons, beklagte sich über ihn. Warum gibt es keine theologischen Hutmacherlehrlinge mehr? Fragte er. Wo sind sie geblieben, die Jakob Böhme und Hans Sachs, die mystischen Schuster und lyrischen Schuhmacher? Wo sind sie hin, die philosophischen Sattler? Warum schreibt keiner dieser Handwerksgesellen seine Reflektionen nieder? Was ist nur aus diesem Berufsstand geworden? Der Herr Redakteur gab keine Antwort. Und alles war so traurig, so unendlich melancholisch. Die alte Studienrätin jedoch, die las ihrem Kater, den sie derweil an einer gewissen Stelle kraulte, den Leserbrief vor, den sie der Zeitung schickte. Sie kannte die Antwort, schließlich war sie gekitzelt worden. Damals, so schrieb sie, also zu Zeiten Spinozas, Karl Philipp Moritz' oder um 1700, als Johann Dietz gelebt hatte, da wurden nicht 40 Prozent eines Jahrganges zur Universität hingeführt. Also mußten viele Begabten im Handwerk bleiben. Im Übrigen könne sie sich noch gut an den kleinen Benno, der es jetzt sogar zu einem Redakteur gebracht hatte, erinnern. Heute bereue sie ihre damalige Gutmütigkeit, eigentlich hätte er durch das Abitur fallen müssen. Aber hatte sie eine andere Wahl gehabt? Nein, aus dem Jungen wär' nie ein anständiger Handwerker geworden. Auch dieser Brief wurde veröffentlicht, gekürzt zwar, aber er sorgte für eine gewisse Aufregung.
»Ja«, klagte der Freund sein Leid, »täglich erreichen mich nun 100 Briefe von empörten Lehrern und Funktionären der GEW, alles treue Leser, Bildungsbürger. Die fragten, ob es das Ziel des Nord-Süd-Geists sei, die damaligen unsozialen Zustände wieder einzuführen. Aber es kam noch schlimmer. Ausgerechnet in derselben Ausgabe erschien eine Besprechung über das Buch eines indischen Schriftstellers. Und die dumme Kuh von Rezensentin mußte natürlich, nachdem sie das Buch ordentlich gelobt hatte, einen Tropfen Wermut vergießen. Ja, hat diese Idiotin geschrieben, was dem Schriftsteller eigentlich fehle, sei die Erfahrung von gewaltsamer Entwurzelung und Exil. Natürlich hatte sie in der Schule und auf der Uni gelernt, daß gerade Entbehrungen den Geist schärfen und fette Leute keine anständigen Bücher schreiben können. Aber ich bitte dich, so etwas als Deutsche, über einen Inder, in meinem Nord-Süd-Geist zu verbreiten, das ist schon ein starkes Stück. In einem Blatt, das vorwiegend von Leuten gelesen wird, die die heile Welt propagieren und auch daran glauben. Für Leute, die sich sozial engagieren. Für Menschen, die keinen Bettler sehen können. Glaub mir Eduard, da gab es doch tatsächlich Beifall von der falschen Seite. Ja, schrieb so ein Gestriger, uns Deutschen gehe es wieder viel zu gut. Wir Germanen könnten nur während eines Krieges richtige Leistung bringen, und allenfalls in Nachkriegsjahren wäre unser Volk zu kulturellen Leistungen fähig. Es gab doch tatsächlich eine Zuschrift, da wurde höhnisch gefragt, ob der Dame ein Mutant nach einem Atomkrieg recht wäre. Er, der Leser, bastele gerade an einer Atombombe und könne der Dame sicherlich helfen. Später dann, also wenn das Leid und die Entbehrungen über die Welt gekommen seien, dann wäre es allerdings am besten, die gute Frau lese direkt aus dem Manuskript. Gewiß wären noch Eiterflecken vorhanden, die dem Schriftsteller aus seinen radioaktiven Wunden geflossen seien. Sag' mein lieber Freund, was soll ich bloß machen?«
»Ja, ich lese den Geist auch nur noch sehr selten, und dann lege ich ihn meistens schnell wieder weg. Ich habe angst, ich könnte Depressionen bekommen. Alles ist im Geist so traurig und unendlich melancholisch.«
»Es ist noch viel schlimmer«, sagte der Verleger, »in einer Studie wurde festgestellt, daß man bei Bewerbungen für Posten in der freien Wirtschaft nicht erkennen geben sollte, daß man Leser des Geistes sei. Die Personalchefs sind sicher, daß langjährige Leser des Geistes fürs Leben versaut sind.«
Zieper sah seinen Freund betroffen an, er kannte solche Erfahrungen aus seiner Partei. Der Verleger aber fuhr fort:
»Und tatsächlich, wenn du die Stellenanzeigen des Geistes liest, dann geht dir ein Licht auf. Bedenke, aus der Art der ausgeschriebenen Stellen läßt sich auf die Struktur der Leser schließen. Da werden Redaktionsassistenten, pädagogische Führungskräfte, Betriebswirte mit pädagogischem Engagement, Referenten für Umweltpolitik, ein Direktor für einen Wohnpark, der Geschäftsführer für eine Landesagentur für Struktur und Arbeit, diverse Professoren und Assistenten gesucht. Frag' mal, wer die Anzeigen aufgibt? Fast ausschließlich sind es Behörden, also mehr oder weniger öffentliche Arbeitgeber. Die wissen natürlich von der parteipolitischen Verschiebung von Stellen, von diesem Filz, diesen Sumpf von Korruption. Und die Stellensuchenden wissen es auch. Das sind die heutigen Leser des Geistes. Das sind keine Arbeiter oder junge Handwerker, die im zweiten Bildungsweg das Abitur machen. Auch der Ingenieur und Abteilungsleiter, der Zusammenhänge der Wirtschaft lernen möchte, und den man über einen anständigen Wirtschaftsteil dazu bringen könnte, auch mal ins Feuilleton zu schauen, liest den Nord-Süd-Geist nicht. Was aber das Schlimmste ist, auch die Studienrätin läßt unser Blatt fallen, und für die wenigen Literaten zählen wir schon lange nicht mehr.«
Onkel Zieper wußte auch keinen Rat. Und alles war so traurig, so unendlich melancholisch. Aber Gott sei Dank hatte er ja ein Glas Bier in der Hand. Er nahm einen tüchtigen Schluck und schon ging es ihm besser.
Auch andere seiner Parteifreunde hatten dem Alkohol zugesprochen, überall wurde die Stimmung ausgelassener, ja man bildete sogar Polonäsen. Dieses Spiel war in der Partei sehr beliebt, einmal wegen des Körperkontaktes, also des Schulterschlusses, und zweitens, weil diese Formation eine Einheit bildet. Allerdings kam es öfters vor, daß eine solche Schlange zerriß. Entweder einigte man sich nicht auf den Kopf, oder es ging zu rasant um die Kurven, so daß der Schwanz nach heftigster Bewegung abriß. Schlimm war es, wenn in zwei Richtungen gezogen wurden. Besonders für die in der Mitte wurde es dann gefährlich. Drei Schritte ging es nach links und ehe man sich versah, wieder vier nach rechts, oder auch umgekehrt. Mancher brach sich bei diesem kopflosen Gestolper ein Bein, bekam aber zumindest blaue Flecken, die sich neuerdings immer grün färbten. An die fürchterlichen Gebilde mit drei Köpfen mochte Onkel Zieper nicht denken, nein, bloß das nicht wieder! Er stand an einem der verwaisten Biertische und fütterte die riesige Schlange, Glas auf Glas reichte er seinen Freunden, die Stimmung stieg. Und dann kam es wie es kommen mußte, die Polonäse zerbrach in mehrere Stücke. Viele Freunde standen plötzlich herum und wußten nicht, wo sie sich anschließen sollten. Zwei mächtige, hungrige Schlangen hatten sich gebildet, beide waren auf Beute aus. Fröhlich winkend gingen sie auf ihre Opfer zu, und ehe sich ein unschuldiges Lehrerlein versah, war es umringt, war gefangen in einem Kreis. Onkel Zieper kannte dieses Spiel mit den Kreisen. Er selbst hatte vor Jahren den Meerheimer Kreis ins Leben gerufen. Jetzt im Alter wußte er, wie gefährlich das Spiel mit diesen Ringen ist. Selbst die Ringvereine zu Zeiten des guten, alten Zille, aus denen sich manch anständiger Gewerkschaftler gehäutet hatte, waren verschwunden. Immer wieder hatte Zieper seinen Parteifreunden den Rat gegeben, onaniert öffentlich, schlagt eure Kinder, vergewaltigt eure Frauen - aber hört mit den Kreisen auf. Er konnte das fürchterliche Schauspiel nicht ertragen, wandte sich ab, nahm einen tiefen Zug Gerstensaft, schloß die Augen, hielt sich die Ohren zu und schrie aus Leibeskräften:
»Ich will davon nichts wissen, ich will davon nichts wissen..«
Und ein Wunder geschah, die Schlangen zerplatzten und seine Freunde ließen ab von diesem bösen Spiel. Über Onkel Ziepers Gesichtszüge huschte ein zufriedenes Lächeln. Mit dem Glas in der Hand ging er weiter, niemand beachtete ihn. In die Nähe des Hintereinganges seines Grundstücks setzte er sich unter einem Fliederbusch auf eine alte Bank. Er erwartete den wichtigsten Gast des Tages.
Er mochte ungefähr eine Viertelstunde dort gesessen haben, da hörte er Klappen von Autotüren. Einen Augenblick später schüttelte er dem Ministerpräsidenten des Nord-Süd-Landes die Hand. Den Parteifreunden freundlichst zuwinkend gingen die beiden Arm in Arm durch den Garten. Wie von Zauberhand bildete sich eine Gasse. Vor dem sich noch immer drehenden Ochsenbraten blieben sie stehen. Ein Jagdhorn erschallte, der Spieß hielt an, Fett tropfte zischend in die Holzkohlenglut. Onkel Zieper band Glander eine Schürze um und drückte ihm ein großes Messer sowie eine überdimensionale Gabel in die Hand. Als das Horn wiederum erscholl, schritt Glander zur Tat. Jedermann sah, wie dieser Mann Hand anzulegen verstand. Mit einigen beherzten Schnitten trennte der Ministerpräsident ein großes Stück Fleisch ab. Auf einem Holzblock zerteilte er es in personengerechte Portionen, wickelte die Leckerbissen gekonnt in Stücke von dünnem Fladenbrot, und als das Horn das dritte Mal ertönte, reichte er die Gaben den um ihn herum stehenden Freunden. Alle klatschten Beifall, die Parteifreunde freuten sich über ihren Ministerpräsidenten, waren begeistert von dessen Ausstrahlung und Tatkraft. Mit diesem Mann würde die Partei jede Wahl gewinnen. Glander lächelte huldvoll, und auch er selbst biß in eins der vom Brotteig umhüllten Fleischstücke. Unversehens liefen ihm die Tränen herunter, er hatte sich verbrannt. Die Parteifreunde jedoch waren sicher, es waren Tränen der Rührung über den von ihnen gespendeten Beifall und klatschten um so mehr.
Zieper und seiner hoher Gast tranken ein, zwei Biere, dann führte der Landesvorsitzende den Ministerpräsidenten in sein Haus. Im Wohnzimmer saßen zwei Personen, die sich sofort erhoben. Glander erkannte Ziepers Patenkind, seine Sekretärin Rita Himmelreich. Der neben ihr stehende Mann war ihm unbekannt.
»Mein lieber Horst, meine Nichte Rita kennst du ja«, sagte Zieper und wies mit einer wohlwollenden Geste auf den Mann, »und das ist Herr Dr. Jochen Hubert. Den Herrn möchte ich dir besonders ans Herz legen, er hat sich heute mit Rita verlobt.«
Einen Augenblick verschlug es Glander die Sprache, auch er hatte mit Rita geschlafen. Dann aber lächelte er, schüttelte den Verlobten artig die Hände und wünschte dem Paar viel Glück. Ehe er noch weiteres von sich geben konnte, zog ihn Onkel Zieper, die beiden jungen Leute allein lassend, in ein anderes Zimmer. Als die beiden nach fünf Minuten wieder aus dem Haus traten und sich unter die anderen Gäste mischten, lag um Onkel Ziepers Mund ein befriedigendes Lächeln. Der zukünftige Ehemann und Vater hatte eine glänzende Karriere vor sich. In einer Woche würde er zum Vizepräsidenten des Verfassungsschutzes im Nord-Süd-Land ernannt werden.
 

copyright ach-satire.de (Auszug aus dem Roman "Der Milliardenvirus")

Zur Startseite von ach-satire.de